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Ein Thema aus der Theorie der Differentialgleichungen

Nullstellenverteilung der Lösungen der homogenen linearen Differentialgleichung dritter Ordnung und geometrisch die Verteilung der Schnittpunkte von Geraden mit der Integralkurve in der projektiven Ebene

Distribution of zeros of solutions
of the ordinary homogeneous linear differential equation of third order

and geometrically the distribution of points of intersection
of the lines with the integral curve in the projective plane

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Rudolf Pleier
1979/2020

Bei dieser Arbeit handelt es sich im Wesentlichen um die Dissertation des Autors im Naturwissenschaftlichen Fachbereich IV (Mathematik) der Julius-Maximilians-Universität Würzburg im Jahr 1979. Es wurden nur zur besse­ren Lesbarkeit einige Textpassa­gen hinzugefügt.

Es wird die homogene lineare Differentialgleichung dritter Ordnung

(L)            \(L[y] \equiv y''' + py'' + qy' + ry = 0\)

mit im Intervall J (\(\subseteq \mathbb{R}\)) stetigen Koeffizienten p, q, r betrachtet. Im ersten Kapitel werden für komplexwertige Koeffizienten und Lösungen hinreichende Bedingungen an die Koef­fi­zien­ten von (L) dafür hergeleitet, dass bei den Lösungen und deren Ableitungen gewisse Null­stellen­kon­figurationen nicht auftreten können. Dabei werden Resultate von Divakova (1970) und Herold (1972), die den Spezialfall p \(\equiv\) \(\equiv\) 0 behandeln, verallgemeinert und Me­thoden ange­geben, mit denen weitere derartige Kriterien gewonnen werden können. In den Kapiteln 2, 3 und 4 der Arbeit wer­den nur reellwertige Koeffizienten und Lösungen betrachtet. Diese Ka­pitel können auch unabhängig vom ersten Kapitel gelesen werden.  

Im engen Zusammenhang mit der Differentialgleichung (L) steht die zu (L) adjungierte Diffe­rentialgleichung

(L+)                  \(L^+[z] \equiv ((z' \text{ - } pz)' + qz)' \text{ - } rz = 0\)

(\(p, q, r \in C(J)\); siehe Barrett (1964) und für die Differentialgleichung n-ter Ordnung Hinton (1966)), die äquiva­lent ist zu dem System von homogenen line­aren Differential­glei­chungen 1. Ordnung

     \(\begin{equation} \begin{aligned} {v_1}' &= \quad pv_1 + v_2 \\ {v_2}' &=\text{ - }qv_1 \qquad + v_3 \\ {v_3}' &=\quad rv_1 \\ \end{aligned} \end{equation} \)  

für die Funktion
                       \(v_1 = z\)
und deren verallgemeinerten Ableitungen

              \(v_2 = D^1[z]=z' \text{ - } pz, \\ v_3 = D^2[z] = (D^1[z])' + qz. \)          

In der Literatur wurde bisher meist noch die 1766 von Lagrange be­trachtete klassische Adjungierte

(L*)                  \(L^*[z] \equiv z'''+Pz''+Qz'+Rz = 0\)   

mit \(P=\text{ - }p, Q=q\text{ - }2p', R = \text{ - }r+q'\text{ - }p''\) für den Spezialfall \(p \in C^2(J), q \in C^1(J)\) verwendet.

Im Kapitel 2 werden allge­meine Bezie­hungen zwischen den Differential­glei­chun­gen (L) und (L+) dargestellt. Unter Ver­wen­dung der Tatsache, dass die zu (L) und (L+) gehörigen drei­dimen­sio­na­len Lösungsräume S und S+ mit der durch

                      \(B[y,z]=y''z \text{ - } y'D^1[z] + yD^2[z]\)     

gegebenen Bilinearform \(B : S\times S^+\to \mathbb{R}\) als skalaren Produkt ein duales Raumpaar bil­den, wer­den

  • Wechselbeziehungen zwischen den Lösungen von (L) und (L+),
  • Wechselbeziehungen zwischen deren Null­stellen­vertei­lun­gen hinsichtlich Oszillation und Existenz von stark os­zilla­torischen zweidimensionalen Unterräumen,
  • Charakterisierungen von speziellen Doppelkegelstrukturen der Menge der nicht­oszil­la­tori­schen Lö­sungen durch asymptotische Eigenschaften der Lösungen ge­geben, Beispiele für derartige Strukturen aufgeführt und eine
  • hinreichende Bedingung für die Diskonjugiertheit an den Intervallgrenzen bewiesen.

Wilczynski hat 1905 für die lineare Differentialgleichung n‑ter Ord­nung – hier wird es für n = 3 formuliert – die Funktionswerte 

                       \(y_1(x), y_2(x), y_3(x) \qquad \qquad (x \in J)\)

eines beliebig fixierten Fundamentalsystems \(y_1, y_2, y_3 \) von (L) als die homogenen Koordinaten eines Punktes \(P = P(x) \) \(= [(y_1(x), y_2(x), y_3(x))] \) in der projektiven Ebene \(\mathbb{P}^2\) inter­pre­tiert. Wenn x das Intervall J durchläuft, bewegt sich der Punkt P(x) entlang der sogenannten Integral­kurve C von (L). Die Tangente von C im Kurvenpunkt P(x) ist die Ge­rade durch die beiden Punkte P(x) und P'(x), wobei P'(x) die homogenen Koordinaten \({y_j}' \; (j = 1,2,3)\) besitzt, und hat die ho­mo­genen Geraden­koordi­na­ten (Hyperebenenkoordinaten)      

                       \(z_1(x), z_2(x), z_3(x) \),         

wenn \(z_1, z_2, z_3 \) das zu \(y_1, y_2, y_3 \) adjungierte Fundamentalsystem von (L*) ist. Dies gilt auch mit (L+) statt (L*).   

Birkhoff benutzt 1911 diese Integralkurve C, um mit­tels geometrischer Be­gründungen Re­sul­tate über die Nullstellen der Lösungen herzuleiten. Um eine Nullstelle einer nichttrivialen Lösung y von (L) als Inzidenz in \(\mathbb{P}^2\) zu interpretieren und die Lösung selbst in \(\mathbb{P}^2\) ge­ometrisch zu veranschaulichen, deutet er die Koordinaten \(c_1, c_2, c_3 \) dieser nichttrivialen Lö­sung

                       \(y = c_1y_1+c_2 y_2+c_3 y_3 \)  

von (L) bezüglich der Basis \(y_1, y_2, y_3 \) von S als die homogenen Koordinaten (Hyperebenen­koor­di­naten) einer Geraden \(G = \langle \mathbb c \rangle \) \((\mathbb c = (c_1,c_2,c_3))\) in der projektiven Ebene \(\mathbb{P}^2\). Demzufolge ist \(x_0 \in J\) eine Nullstelle (bzw. eine zweifache Null­stelle) von y genau dann, wenn die zu y ge­hö­ri­ge Gerade \(G = \langle \mathbb c \rangle \)   in \(\mathbb{P}^2\) die Integralkurve im Punkt \(P(x_0) = [\mathbb y(x_0)] \)  \( = [(y_1(x_0), y_2(x_0), y_3(x_0))] \) trifft (bzw. be­rührt).

Abb. 1      Die Integralkurve C der homogenen linearen Differentialgleichung 3. Ordnung in der projektiven Ebene, ein Treffpunkt \([\mathbb y(x_0)]\) einer Geraden \(G = \langle \mathbb c \rangle \) mit C und Tangenten von einem Punkt \(Q = [\mathbb d]\) aus an die Kurve C 

In der vorliegenden Arbeit werden in Abschnitt 3.1.6 nun auch noch die Nullstellen der nichttrivialen Lösun­gen

                        \(z = d_1 z_1+d_2 z_2+d_3 z_3 \) 

der adjungierten Differentialgleichung (L+) als Inzidenzen in \(\mathbb{P}^2\) interpretiert und die Lösun­gen selbst in \(\mathbb{P}^2\) geometrisch veran­schau­licht, indem man deren Koordinaten \(d_1,d_2,d_3\) bezüg­lich der Basis \(z_1, z_2, z_3 \) von S+ als die homogenen Koordinaten eines Punktes \(Q = [\mathbb d] = [(d_1,d_2,d_3)]\) in der projekti­ven Ebene \(\mathbb{P}^2\) deutet. Demzufolge ist \(x_0 \in J\) genau dann eine Null­stelle von z, wenn der zu z gehörige Punkt \([\mathbb d] = [(d_1,d_2,d_3)]\) in \(\mathbb{P}^2\) auf der Tan­gente von C im Punkt \(P(x_0)\) mit den Geradenko­ordinaten \(z_k(x_0) \; (k = 1,2,3)\) liegt. Und \(x_0 \) ist ge­nau dann eine zweifache Nullstelle von z, wenn der zu z gehörige Punkt \([\mathbb d] = [(d_1,d_2,d_3)]\) auf der In­tegralkurve C liegt und zwar gleich \(P(x_0)\) ist.

Allgemeiner wird gezeigt, dass die nichttrivialen Lösungen \(y \in S\) und \(z \in S^+\) genau dann ortho­gonal bezüglich des skalaren Produktes B sind (\(B[y,z]=0\)), wenn in \(\mathbb{P}^2\) die zu y gehörige Gerade durch den zu z gehörigen Punkt  geht. Damit lassen sich also Resultate über die Null­stellen­ver­teilung der Lö­sungen von (L) und (L+) geometrisch veranschaulichen und umge­kehrt hat man dadurch auch eine Quelle für Vermutungen über neue mögliche Sätze und auch deren analyti­sche Be­weise.

Hinsichtlich der Ergebnisse von Birkhoff schreibt Barrett 1969: „Obwohl bei jeder Arbeit über Diffe­rential­glei­chun­gen drit­ter Ordnung der Hinweis auf Birkhoffs Ar­ti­kel nicht fehlen darf, werden seine Ergebnisse und Metho­den selten erwähnt.“ Daher werden nun in der hier vorliegenden Arbeit mehrere sei­ner geometrisch begründeten Resultate auch noch ana­lytisch bewiesen. Dazu werden in Ab­schnitt 3.1

  • Inzidenzen von Punkten und Geraden und
  • geometrische Eigenschaften der Integral­kurve C wie etwa das Auftreten von Doppel­punkten, Doppeltangenten, Selbstschneidungen, Selbst­be­rühr­un­gen, der Treffpunktfreiheit oder Schnittpunktfreiheit der Tangenten mit dem vorhergehenden bzw. nachfolgenden Kurvenstück oder einer Spiral­form durch Bedingungen an Lö­sungen von (L) und (L+)  ausführlich cha­rakterisiert.

In Ab­schnitt 3.2 wird dann

  • ein von Birkhoff geo­metrisch be­gründeter allge­meiner Trennungs­satz richtiggestellt und in ver­allgemeinerter Form analytisch bewiesen. Au­ßerdem werden
  • neue Sätze über die Nullstellenanzahl von zwei nicht orthogonalen bzw. zwei orthogonalen Lösun­gen bewiesen und mittels der Integralkurve C geometrisch veranschau­licht.

Für viele Aussagen über die Lösungen der Differentialgleichung (L) bzw. (L+) genügt es an Stelle von Bedingungen an die Koeffizienten pqr vorauszusetzen, dass die Differential­glei­chung zu einer gewissen Klasse gehört. Dies soll hei­ßen, dass bei den Lösungen und deren (ver­allgemeinerten) Ableitungen gewisse Nullstellen­kon­fi­gu­ra­tionen nicht auftreten. So ist etwa die Zugehörigkeit der Differentialglei­chung (L) in J zur Klasse \(K_\text{II}\) (bzw. \(K_\text{I}\)) dadurch definiert, dass es zu beliebigen Stellen \(c, d \in J\) mit \(c < d \)  (bzw. \(d < c\)) keine nichttriviale Lö­sung y von (L) gibt mit

                        \(y(c) =y'(c) = y(d) = 0 \neq y'(d) \)

Bei einer Differentialgleichung (L) der Klasse \(K_\text{II}\) gibt es also keine nichttriviale Lösung y, die rechts von einer zweifachen Nullstelle c noch eine einfache Nullstelle d besitzt. Geometrisch be­deutet die Zugehörigkeit von (L) zur Klasse \(K_\text{II}\) zunächst, dass jede Tangente von C das nachfolgende Kurvenstück höchstens berührt, aber nicht schneidet.  Analog be­deutet die Zugehörigkeit von (L) zur Klasse \(K_\text{I}\), dass jede Tangente von C das vorhergehende Kurvenstück höchstens berührt, aber nicht schneidet. Weiter folgt aus der Zugehörigkeit von (L) zur Klasse \(K_\text{I} \cup K_\text{II}\) zunächst notwendig, dass die Integ­ralkurve eine nach au­ßen bzw. nach innen fortlaufende Spiralform hat. 

Abb. 2      Eine Integralkurve \(C \in K_\text{II}\), bei der jede Tangente das nachfol­gende Kur­ven­stück nicht schneidet, sondern höchstens berührt, besitzt eine nach innen fortlaufende Spiralform, bei der die Kurve in einem Kurven­­punkt \([ \mathbb y(t)] \) vom nachfolgenden Kurvenstück \(\{[ \mathbb y(x)] : x > t\}\) höchs­tens berührt und nicht durchsetzt wird.

Eigen­schaften dieser Klassen werden in Kapitel 4 bewiesen hinsichtlich

  • Charakterisierun­gen der Diskonjugiertheit,
  • Charakterisierung der nichtoszillatori­schen Lö­sungen als die nullstellenfreien Lösungen,
  • Existenz von nicht­negativen (nichttrivia­len) Lö­sungen,
  • Existenz von stark oszillatorischen zweidimen­siona­len Unter­räumen,
  • Oszillation von (L) und (L+),
  • Diskonjugiertheit an den Intervallgren­zen und
  • Existenz von nullstellen­freien Lö­sun­gen.

Ferner wird in Abschnitt 4.6 die von Birkhoff 1911 geometrisch formulierte und begrün­dete

  • Cha­rak­te­risierung der Klasse \(K_\text{I} \cup K_\text{II}\) mittels der Integralkurve C durch die Spiralform mit möglichen Selbstberührungen und zwar bei der Klasse \(K_\text{I} \) durch eine nach au­ßen fortlaufende Spiralform und bei der Klasse \(K_\text{II}\) durch eine nach innen fortlaufende Spiralform

unter Verwendung der Begriffe Doppelpunkt, Doppeltan­gente, Selbstschneidung, Selbst­berüh­rung und Selbstdurchsetzung von C hier analytisch beschrieben und analytisch bewiesen. Dabei werden die einzelnen Beweisschritte auch mittels der Integralkurve C geometrisch veranschaulicht. Es zeigt sich, dass der analyti­sche Beweis wesentlich aufwendiger als der geometrische ist und etlicher Hilfssätze bedarf. In die­sem Zu­sammen­hang werden auch Hilfspunkte im Intervall J verwendet, die als Endpunkte maximaler Intervalle einer bestimmten Klassenzugehörigkeit definiert sind. Beispielsweise liefert zu einem \(c \in J\) der sog. erste (rechte) konjugierte Punkt η(c) von c mit dem Intervall [c,η(c)[ das maximale Diskonjugiertheitsintervall der Form [c,d[, d > c. Es werden die Wechselbeziehungen zwischen diesen Hilfspunkten, insbesondere Eigen­schaften der durch die ersten konjugierten Punkte gegebenen Funk­tion η beschrieben und auch neue Erkenntnisse zur Differenzierbarkeit von η hergeleitet.